Wiener Klassik

Wiener Klassik
Wiener Klạssik,
 
musikalische Stilperiode, umfasst das v. a. auf Wien konzentrierte Schaffen J. Haydns, W. A. Mozarts und L. van Beethovens zwischen 1781 (Haydns sechs »Russische« Streichquartette Opus 33 »nach neuer Art«) und 1827 (Todesjahr Beethovens). Der Begriff Klassik bezieht sich hier auf die überragende musikgeschichtliche Bedeutung des Stils, dessen Eigenart mit Begriffen wie formale und inhaltliche Identität, Ausgewogenheit, Klarheit, Einfachheit und Universalität umschrieben wird. Voraussetzung für die Entstehung der Wiener Klassik war die gesellschaftliche und geistige Dynamik der Übergangszeit zwischen Ancien Régime und moderner bürgerlicher Gesellschaft, die sich in einem hoch entwickelten, von Adel und Bürgertum gleichermaßen getragenen privaten und öffentlichen Musikleben in den europäischen Zentren (Paris, London, Wien, Mannheim, Mailand, Neapel), in der Ausbildung eines freien Künstlertums und eines breiteren Publikums von unterschiedlicher musikalischer Bildung niederschlug.
 
In der als Vorklassik benannten Phase erfolgte der Bruch mit den als übersteigert empfundenen kompositorischen Techniken des Spätbarock und die Hinwendung zu einer mit schlichteren Mitteln geschaffenen Musik der Gefälligkeit und des gefühlshaften Ausdrucks. Ihre Vertreter trugen bereits maßgeblich zur Ausbildung der Klavier- und Violinsonate, der Sinfonie und des Streichquartetts bei, die, zusammen mit den für die Frühzeit charakteristischen Formen Divertimento, Serenade, Kassation und dem aus dem Barock übernommenen Solokonzert, die Hauptgattungen der Wiener Klassik bildeten und v. a. bei Haydn und Beethoven die Instrumentalmusik zu ihrem Höhepunkt führen sollten. Die Vokalmusik hingegen blieb der barocken Tradition stärker verhaftet, v. a. in der Oper, wo sich die höfische Repräsentationsform der pathetisch überladenen Opera seria lange neben den neuen, von realistischer Volkstümlichkeit getragenen Gattungen Opera buffa, Opéra comique und Singspiel hielt. Erst in Mozarts Opern wurden die verschiedenen nationalen Ausformungen eingeschmolzen in einen vom Theatralischen her bestimmten und in den Dienst allgemeiner menschlicher Aussage gestellten Opernstil (»Le nozze di Figaro«, 1786; »Die Zauberflöte«, 1791). Von demselben Humanitätsideal sind Haydns Oratorien »Die Schöpfung« (1798) und »Die Jahreszeiten« (1801) sowie Beethovens Oper »Fidelio« (1805), seine »Missa solemnis« (1819-23) und die 9. Sinfonie (1822-24) durchdrungen.
 
Die in der Vorklassik hervorgetretene Tendenz zur Allgemeinverständlichkeit blieb bei aller Verfeinerung der musikalischen Mittel ein Grundzug der Wiener Klassik. Die Norm des Satzes bildet die dem Volkslied und -tanz entnommene achttaktige Periode, die gleichwohl oft kunstvoll verdeckt wird und durch metrische Irregularität und differenzierte Rhythmik innere Belebung erfährt. Träger des Ausdrucks ist die aus individuellen Motiven von eigener energetischer Spannung kontrastreich zusammengesetzte oder die liedhaft geschlossene Melodie. In Form des entfaltungsfähigen Themas stiftet sie musikalischen Zusammenhang. Das Verfahren der Entwicklung und Abwandlung des Themas (thematische Arbeit) und seiner Verteilung auf die verschiedenen Stimmen (durchbrochene Arbeit, obligates Akkompagnement) kennzeichnet seit Haydns Streichquartetten die für die Wiener Klassik grundlegende instrumentale Bauform der zyklisch eingebundenen Sonatensatzform. Die vorklassische Simplizität in der Harmonik und die Beschränkung auf wenige Tonarten wurden in der Wiener Klassik abgelöst durch einen kühnen Gebrauch von Chromatik, Dissonanz und Modulation und durch Erweiterung des tonalen Potenzials. Gleichfalls wurden neue Möglichkeiten der dynamischen und klangfarblichen Nuancierung erschlossen. Die bestechende Wirkung des klassischen Orchesterklangs geht auf die starke Vermehrung der Streicher, den Einsatz des jeweils eigenen Kolorits der Blasinstrumente und das Prinzip der abgestuften Verschmelzung zurück.
 
Im 19. Jahrhundert wurde die Antinomie klassisch - romantisch auf die Musik übertragen und zur Bezeichnung zweier vermeintlich gegensätzliche Stile herangezogen. Die Romantik hat jedoch weniger einen neuen Stil geschaffen, als vielmehr durch die starke Betonung der auch in der Wiener Klassik vorhandenen subjektivistischen Momente und durch andere außermusikalische Motivierungen jene Vollendetheit des »rein Musikalischen« verloren, die für die Wiener Klassik charakteristisch ist.
 
 
H. H. Eggebrecht: Versuch über die W. K. Die Tanzszene in Mozarts »Don Giovanni« (1972);
 W. Budday: Grundlagen musikal. Formen der W. K. (1983);
 
Die Musik des 18. Jh., hg. v. C. Dahlhaus (1985);
 C. Dahlhaus: Ludwig van Beethoven u. seine Zeit (31993);
 C. Rosen: Der klass. Stil. Haydn, Mozart, Beethoven (a. d. Engl., 21995).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Haydn - Mozart - Beethoven: Die Wiener Klassiker
 
Musik des 19. Jahrhunderts
 
Wiener Klassik: Das Solokonzert
 
Wiener Klassik und der Begriff des »Klassischen«
 

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем написать курсовую

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Wiener Klassik — Die Wiener Klassik (ca. 1780–1827) ist eine Stilrichtung der europäischen Kunstmusik. Ihr gehören Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven an. Im weiteren Sinn ist mit diesem Begriff auch die „Zeit der Wiener Klassik“… …   Deutsch Wikipedia

  • Wiener Klassik und der Begriff des »Klassischen« —   Die Begriffe »klassisch« und »Klassik« sind in der Musik besonders schillernd und kaum präzise bestimmbar. Und der Ausdruck »Wiener Klassik«, mit dem seit dem frühen 19. Jahrhundert das Werk der in Wien wirkenden Komponisten Franz Joseph Haydn… …   Universal-Lexikon

  • Wiener Klassik: Das Solokonzert —   Dass Haydn in der anderen »öffentlichen« Gattung, nämlich im Solokonzert, nicht gleichermaßen geschichtswirksam wurde wie in Sinfonie und Streichquartett, liegt unter anderem daran, dass er nicht primär als Virtuose (und »Wunderkind«) groß… …   Universal-Lexikon

  • Messe und Oratorium: Geistliche Musik der Wiener Klassik —   Die Geschichte der geistlichen Vokalmusik im ausgehenden 18. Jahrhundert, vor allem die der großen Gattungen Messe und Oratorium, ist in seinen komplexen funktionalen, regionalen und ästhetischen Belangen noch nicht genügend erforscht.… …   Universal-Lexikon

  • Wiener Schule (Musik) — Wiener Schule ist die Bezeichnung für eine Gruppe von Komponisten und deren Musikstil in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwischen Spätbarock und Wiener Klassik. Der Ersten Wiener Schule kommt um 1750 zusammen mit der Mannheimer Schule… …   Deutsch Wikipedia

  • Wiener Schule — Wiener Schule,   1) Medizin: die im 18. Jahrhundert von G. van Swieten begründete und von dessen Landsmann und Nachfolger A. de Haën (* 1704, ✝ 1776) weitergeführte Bewegung zur Reform des Medizinalwesens in Österreich sowie des dortigen… …   Universal-Lexikon

  • Klassik — (von lateinisch classicus ‚zum ersten Rang gehörig‘) steht für: Antike, eine Epoche des Altertums im Mittelmeerraum, dort vor allem: die bildende Kunst und Literatur des augusteischen Zeitalters, siehe Augustus #Das augusteische Zeitalter die… …   Deutsch Wikipedia

  • Wiener Philharmoniker — Zweck: Verein Vorsitz: Clemens Hellsberg Gründungsdatum: 1842 Sitz: Wien …   Deutsch Wikipedia

  • Wiener Klangstil — ist ein Sammelbegriff für Eigenschaften, die den speziellen Klang der Wiener Orchester ausmachen. Die Wiener Musiker machten nicht alle instrumententechnischen Neuerungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit, die auf ein größeres… …   Deutsch Wikipedia

  • Wiener Schule — steht für: Wiener Schule der Pastoraltheologie, theologische Schule des 14. und 15. Jahrhunderts Wiener Kreis, eine Gruppe von Philosophen und Wissenschaftstheoretikern, die sich ab 1922 unter der Leitung von Moritz Schlick wöchentlich in Wien… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”